Hochbegabung und ADHS

Bei Menschen mit Hochbegabung wird nicht selten ADHS vermutet – das betrifft sowohl Kinder als auch Erwachsene – und insbesondere dann, wenn die Hochbegabung (noch) nicht erkannt wurde.

Tatsächlich haben Hochbegabte einige Verhaltensweisen oder Eigenschaften, die ADHS ähneln: gesteigerte Aktivität und Unruhe, Konzentrationsprobleme oder Schwierigkeiten dabei, Dinge zuende zu bringen. Bevor aber die Diagnose ADHS gestellt werden darf, muss genauer hingeschaut werden. 

ADHS bedeutet, dass eine generelle Funktionsstörung des Gehirns bezogen auf die Aufmerksamkeit vorliegt, die es den Betroffenen schwer macht, die Aufmerksamkeit bewusst zu regulieren. Dadurch sind sie erheblich im Alltag beeinträchtigt und zwar unabhängig vom Kontext. Das heißt, die Symptome (Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu halten) sind immer vorhanden und nicht nur in bestimmten Situationen. Zudem müssen die Probleme seit frühester Kindheit bestehen.

Menschen mit ADHS vermeiden daher jegliche Situationen, in denen sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren müssen (da ihnen genau das schwer fällt). Sie sind schnell erschöpft, wenn Aufgaben mit hoher Anforderung an die Aufmerksamkeit gestellt werden. Sie vermeiden hohe geistige Anstrengungen wie z.B. Lesen anspruchsvoller Literatur o.ä..

Genau dies aber stellt für Menschen mit Hochbegabung kein Problem dar: sie können hochkonzentriert bei einer Sache sein, solange der Kontext stimmt, d.h. die Aufgabe als herausfordernd erlebt wird. Die Aufmerksamkeitsprobleme entstehen nur bei geistiger Unterforderung. Dies ist nicht pathologisch, sondern ganz normal. Hochbegabte Menschen sind nur wesentlich häufiger geistiger Unterforderung ausgesetzt als die Mehrheit der Bevölkerung.

Unterschiede zwischen Hochbegabung und ADHS:

Hochbegabung
ADHS
Können sich grundsätzlich gut konzentrieren (meist sogar überdurchschnittlich gut), wenn der Kontext interessant ist.
Vermeiden von Aufgaben mit hoher Anforderung an die Aufmerksamkeit; Vermeiden geistiger Anstrengungen
Können grundsätzlich ablenkende Reize ausblenden, hierfür ist mentale Anstrengung nötig, die unter Belastung evtl. nicht mehr gelingt
Ausblenden ablenkender Reize gelingt grundsätzlich nicht
Beschäftigen sich gerne mit anspruchsvollen Aufgaben; können darin ganz versunken sein; fühlen sich entspannt und zufrieden nach geistiger Anstrengung
Vermeiden die Beschäftigung mit z.B. anspruchsvoller Literatur; sind schnell erschöpft durch geistige Anstrengung

Gemeinsamkeiten von Hochbegabung und ADHS:

  • Hohes Aktivitätsniveau
  • Ungeduld/innere Unruhe
  • Schwierigkeiten in der Selbstorganisation
  • Schwierigkeiten zuzuhören
  • Flüchtigkeitsfehler
  • Vergeßlichkeit
  • Leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize oder eigene Gedanken
  • Andere nicht ausreden lassen
  • Schwierigkeiten, Dinge zuende zu bringen

Mögliche andere Ursachen:

Für viele der Symptome, die bei ADHS beobachtet werden, kann es auch andere Ursachen geben, insbesondere chronischer Stress. Dieser entsteht z.B. durch

  • anhaltende Überforderung
  • anhaltende Unterforderung
  • dauerhafte Probleme in nahen Beziehungen (z.B. Partnerschaft, eigene Eltern)
  • Unverarbeitete Traumata
  • existenzielle Sorgen/Perspektivlosigkeit

Werden die Ursachen für den chronischen Stress angegangen, bessern sich auch die psychischen Symptome.

ADHS sollte nur von erfahrenen Fachleuten und unter Verwendung ausführlicher Testungen diagnostiziert werden.

Bei Menschen mit Hochbegabung ist bei der Testung genau auf den Kontext zu achten, in dem die Symptome auftreten. Ist die Symptomatik kontext-abhängig, so liegt eher kein ADHS vor.

2 Kommentare

  1. Bei ADHS fehlt nicht die Aufmerksamkeit, sondern die Regulierung der Aufmerksamkeit. So kann jemand mit ADHS durchaus „überfokussiert“ sein (ablenkende Reize sind dann ebenso ausgeknipst wie hilfreiche Reize … z.B. „ich muss aufs Klo“.) . Was fehlt sind die Aufmerksamkeitsmitten.

    Wie bei allen Störungen muss die Baseline beachtet werden. ADHS disqualifiziert nicht grundsätzlich für anspruchsvolle Tätigkeiten, aber der Sprung dorthin ist größer. Deshalb gibt es einen Gap zwischen erbrachter Leistung und „erwartbarer Leistung“ und/oder es wird mehr Energie aufgebracht, den Gap zu überbrücken. Ein ADHSler mit hoher Intelligenz macht womöglich auch anspruchsvolle Sachen, aber womöglich nicht auf dem Level, wie es seiner Intelligenz entsprechend angemessen wäre. (Ich lese anspruchsvolle Bücher, aber nur wenn sie kurz sind, gut strukturiert, meinem Interesse entsprechen oder mein Interesse wecken zB über Storytelling, außerdem spiky Leseverhalten in Schüben.)

    ADHS hat nicht nur die Aufmerksamkeit, Hyper/Hypoaktivität und Impulsivität als Symptome, sondern noch ein paar andere. Interessant könnten in diesem Kontext die Exekutivfunktionen sein. Kein offizielles Kriterium, aber womöglich ebenfalls interessant als Marker ist die veränderte Zeitwahrnehmung (Google Stichwort: time perception / time blindness).

    Also eine These:
    > Gemeinsamkeit: Mehr denken, mehr wahrnehmen, mehr fühlen = viel Input.
    > Unterschied: 1) ADHS hat zusätzlich eine verringerte Regulierungsfähigkeit, z.B. Emotionen, Exekutivfunktion, Zeitwahrnehmung. 2) ADHS kommt natürlich bei allen IQs vor.

    • Vielen Dank für den hilfreichen Beitrag, insbesondere den Hinweis auf die *Regulierung* der Aufmerksamkeit. Ich habe den Text etwas angepaßt. Viele Grüße

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